Es war einer dieser Anrufe, die mich häufiger mal erreichen. Ein 19-jähriger junger Mann war bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Die Unfallursache war nicht klar zu benennen. Hatte er die Kontrolle über den Wagen verloren oder war seine Tablettensucht dafür verantwortlich, dass er einen Moment (einen zu langen Moment) der Unaufmerksamkeit hatte.

Das muss doch nicht sein, denkst du jetzt vielleicht. Süchte lassen sich behandeln. Warum hat ihm keiner geholfen? Warum hat er sich keine Hilfe gesucht?

Er war in innere Not gekommen, Tim, so nenne ich ihn hier, um seine Identität zu schützen. Ein feiner Kerl, der viele Lasten – auch und gerade für andere – getragen hat. Irgendein Arzt kam auf die „glorreiche“ Idee, ihm Tabletten zu verschreiben, damit die Lasten für ihn ein bisschen leichter werden würden. Daraus entstand, viel schneller als bei anderen, eine Abhängigkeit, die weder der junge Mann selbst noch seine Eltern, nicht seine Freunde und fahrlässigerweise auch nicht der behandelnde Arzt rechtzeitig erkannten.

In innere Not zu kommen, ist nichts Ehrenrühriges. Ich behaupte mal, dass es keine einzige Person gibt, der das nicht schon mal passiert ist. Die meisten von uns haben doch ein Außen und ein Innen. Ein Außen, das sie anderen zeigen, und ein Innen, das sie möglichst vor anderen verborgen halten.

Das Außen, das ist unser poliertes Ich, wir selbst, wie wir auch sind, aber quasi in Festtagskleidung. Das Innen, das sind die Anteile von uns, die wir selbst meist nicht so gerne an uns mögen, unsere verletzlichen Seiten, unsere Fehler, denen wir uns nicht so gerne stellen, unsere Handlungen, auf die wir alles andere als stolz sind.

Tim war eigentlich ein Typ wie ein offenes Buch. Sein Innen und sein Außen waren zum größten Teil deckungsgleich. Mit allem, was ihn beschäftigte, ist er absolut offen und ehrlich umgegangen. Er war der Mensch, der Klartext sprach. Denn Lügen waren etwas, was er partout nicht leiden konnte. Wenn etwas Ungeklärtes im Raum stand, dann konnte er nicht einschlafen. Er konnte so lange nicht schlafen, bis es bereinigt war.

Eine einzige Sache nur gab es, die ist in seinem Inneren geblieben. Und das war die Sache mit den Tabletten. Sie sollten ihm dabei helfen, die Last nicht mehr zu spüren. Der Haken war nur, dass sein Körper ungewöhnlich heftig darauf reagierte und er sehr schnell in eine Tablettenabhängigkeit hineingeriet.

Und plötzlich hatte Tim auch einmal ein Innen, was er anderen nicht so gerne zeigte. Weil er in dem Punkt auf einmal nicht mehr der Starke war, der Sonnenschein, der, der für alles eine Lösung hatte.

Es gehört ja auch sehr viel dazu zuzugeben, dass es da etwas gibt, was du nicht im Griff hast, oder?Oder gibst du gerne etwas zu, was dir richtig, richtig unangenehm ist?

Er wollte das ändern. Das wollte er unbedingt. Er wollte sein Innen und sein Außen wieder deckungsgleich machen. Und er wollte es alleine schaffen. Weil er dachte, er kriegt das hin. Aber es gibt Dinge, die schaffen wir nicht alleine. Dafür brauchen wir andere.

Jetzt muss ich mich fragen, müssen wir uns alle fragen: Wenn ich ihn persönlich gekannt hätte, hätte er dann zu mir kommen können? Wäre ich der Mensch gewesen, der ihm zugehört hätte? Hätte ich ihn tatkräftig unterstützt? Oder hätte ich ihm geantwortet: „Ey Alter, das kann doch nicht so schwierig sein. Dann lässt du die Dinger halt einfach weg!“

Es gibt viele Tims in unserem Umfeld. Tims, die nicht durch eigenes Verschulden, sondern durch eine Verquickung unglücklicher Umstände in innere Not gekommen sind. Manchmal sind wir selber so ein Tim. Und leider endet so eine Geschichte manchmal tödlich.

Er war 19 Jahre alt, und er hatte keine Zukunft. Das ist die bittere Wahrheit.

Ich hätte sehr gerne ein ernstes Wort mit dem behandelnden Arzt gesprochen, aber das stand mir nicht zu. Dafür konnte ich das tun, was ich am besten kann: Ich konnte ihn verabschieden mit mehr als 200 Personen. Ich hielt meine Lebensrede vor vielen, leichenblassen und tränenüberströmten Gesichtern.

Er war 19 Jahre alt. Und ich hätte ihm nichts mehr als eine Zukunft gewünscht.

Ich wünsche dir von Herzen eine zukunftsweisende Woche von Mittwoch zu Mittwoch,

deine Katharina

Zitat der Woche: „Für einen Vater, dessen Kind stirbt, stirbt die Zukunft. Für ein Kind, dessen Eltern sterben, stirbt die Vergangenheit.“ (Berthold Auerbach)