„Ich habe keine Tränen mehr!“ Das sagen mir Trauernde, die schon so viel geweint haben, dass keine Tränen mehr übrig zu sein scheinen. Und ganz ehrlich, so etwas zu hören, rührt mich zwar an, freut mich aber auf der anderen Seite. Denn diese Menschen haben einen Kanal, der ihnen natürlicherweise zur Verfügung steht, dafür genutzt, ihre Seele zu entlasten.

Was tut ein Kind, wenn es traurig ist? Es weint. Niemand findet das merkwürdig. Tränen sind ein uns angeborener Ausdruck unseres traurigen Seelenzustandes. Wenn wir also als Erwachsene nicht weinen können, dann nur deshalb, weil wir das Weinen verlernt haben.

  • „Jungen weinen nicht.“
  • „Ein Indianer kennt keinen Schmerz.“
  • „Sei ein braves Mädchen.“

Solche und ähnliche Sätze haben wir alle als Kinder zur Genüge gehört. Wir haben auf diese Weise beigebracht bekommen, dass wir – verdammt noch mal – unsere Gefühle zu ignorieren haben. Und dass wir nur gewollt sind mit der fröhlichen Seite unseres Selbst.

Aber so ist das Leben nicht. So sind wir Menschen nicht. Wir haben Gefühle. Sie stehen uns in der ganzen Palette von dunkel bis hell zur Verfügung. Traurigkeit und Tränen ebenso wie Ausgelassenheit und Lachen.

Ich habe gehört, wie ein Junge nach einer Trauerfeier zu seinem Vater sagte: „Papa, ich habe dich zum ersten Mal weinen gesehen.“ Das ist bestimmt keine einmalige Erfahrung. Männer haben es diesbezüglich deutlich schwerer noch als Frauen. Sie bekommen stets und ständig vermittelt, dass sie stark zu sein haben.

Deshalb: Begrüße jede deiner Tränen! Und ja, das kann dazu führen, dass du das Gefühl hast, keine mehr zu haben. Aber das ist besser und gesünder, als sie herunterzuschlucken. Denn tief in dir drin – ungesehen und ungeweint – richten deinen Tränen großen Schaden an.

Ungelebte Traurigkeit führt zu seelischen und tatsächlich auch körperlichen Erkrankungen. Rund 60 Prozent aller Depressionen sind auf unverarbeitete Trauer zurückzuführen. Und wie viele Krebsfälle damit zu tun haben, dass vielleicht 20, 30 Jahre vorher ein schwerer Verlust nicht ausreichend betrauert wurde, ist kaum zu beziffern. Doch genau das passiert. Der Körper zerfrisst sich selbst. Nur: die wenigsten Ärztinnen und Ärzte stellen nach so langer Zeit einen Zusammenhang zu dem viele Jahre zurückliegenden Trauerfall her.

Manche Leute sagen, sie könnten nicht weinen. Bei ihnen hat die Erziehung gewirkt. Im Negativen. Sie haben den Zugang zu ihrer natürlichen Fähigkeit zu trauern verloren. Aber auch ihre Tränen lassen sich wiederfinden. Wenn sie es wollen.

Jetzt weißt du, warum ich es begrüße, wenn Menschen zu mir sagen: „Ich habe keine Tränen mehr!“ Sie haben so viel geweint, dass der innere Tränenspeicher vorerst leer ist. Und das ist gut. Denn dann hat die Seele Raum, sich wieder mit Freude zu füllen.

Ich wünsche dir um deiner Seele willen von Herzen eine tränenreiche Woche von Mittwoch zu Mittwoch,

deine Katharina

Zitat der Woche: „Aufgelöst und gestillt wird durch Tränen der Schmerz.“ (Ovid)

 

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