Ich erinnere mich noch sehr gut an eine der Lesungen, die ich im Jahr 2019 gehalten habe. Ich war damals in einem Hospizkreis zu Gast und habe mit den Ehrenamtlichen über Abschied, Sterben, Tod und Trauer gesprochen. Wir kamen unter anderem darauf zu sprechen, wie schwer es manchen Menschen fällt, mit Verlusten umzugehen. Besonders schwer, so die einhellige Meinung, falle es denjenigen, die nie gelernt hätten, Gefühle zu zeigen.

Einer der Ehrenamtlichen, ein Mann, der bereits die 70 überschritten hatte, erzählte sehr offen davon, wie er als Kind durch seinen Vater geprägt worden war. Der Vater gehörte zu der Sorte Mann, die es damals zuhauf gab: Männer, die sich lieber die Hand abgehackt hätten, als Gefühle zu zeigen. Nicht umsonst konnte das „Schnell wie die Windhunde, hart wie Kruppstahl, zäh wie Leder“ zum Leitspruch einer ganzen Generation werden.

Der ehrenamtliche Mitarbeiter schilderte weiter, er könne sich noch heute daran erinnern, wie der Kiefer seines Vaters anfing zu mahlen, sobald dieser eine Gefühlsregung verspürte. Seinem Mund entfuhr nicht der leiseste Laut, aber der Kiefer arbeitete. Das ließ sich unschwer an seiner Gesichtsmuskulatur ablesen. Bloß keine Gefühle zeigen! Weder Wut noch Trauer noch Angst.

Wer seine Gefühle unterdrückt, wer versucht, seine Trauer zu verdrängen, der wird krank. Trauer, die nicht leben darf, bricht sich auf ihre Weise die Bahn. Rund zwei Drittel aller Depressionen, so die Forschung, sind auf unverarbeitete Trauer zurückzuführen. Und es gibt unzählige andere Krankheiten, die entstehen können, weil verdrängte Trauer sich ihren eigenen Weg sucht, an die Oberfläche zu dringen.

Nur – meistens wird das während der Behandlung dieser Krankheiten nicht beachtet. Warum? Weil es wenige Ärztinnen und Ärzte gibt, die diese Zusammenhänge verstehen.

Wir könnten im Gesundheitssektor horrende Summen einsparen, wenn wir ein Miteinander erschaffen würden, in dem Gefühle eine Rolle spielen dürfen. Es klingt einfach, scheint aber für viele Menschen schwierig zu sein: Trauer und belastende Gefühle überhaupt in dem Moment zu zeigen, in dem sie entstehen.

Der Ehrenamtliche im Hospiz hat seinen eigenen Weg gefunden um zu lernen, auf gesunde Weise mit seinen Emotionen umzugehen: „Ich arbeite deshalb im Hospiz mit, damit ich mit meinen traurigen Gefühlen in Kontakt komme.“ Zwar spüre er immer noch die Prägung durch seinen Vater und habe oft genug den mahlenden Kiefer vor Augen. Und doch habe er sein Ventil gefunden, das seine Gefühle leben lasse.

Was ist dein Ventil?

Von Herzen wünsche ich dir eine gefühlsintensive Woche von Mittwoch zu Mittwoch,

deine Katharina

Zitat der Woche: „Traurigkeit ist nicht ungesund – sie hindert uns abzustumpfen.“ (George Sand)

 

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