Von Anja Maier, 19.04.2021, Weserkurier
Die Trauerbegleiterin Katharina Ziegler betrachtet die Pandemie aus der Perspektive der Hinterbliebenen, die nahestehende Corona-Opfer zu beklagen haben. Das Corona-Gedenken kann diesen Menschen helfen.
Frau Ziegler, Sie waren als Trauerbegleiterin Anfang März bei einem Treffen von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit Corona-Hinterbliebenen. Was war Ihr stärkster Eindruck? Katharina Ziegler: Dass es sehr viele Einzelschicksale gibt, die bisher nicht gesehen und gehört wurden. Die Hinterbliebenen, die dabei waren, haben ihre eigenen Geschichten erzählt. So etwas berührt stärker, als wenn man allgemein von Verstorbenen spricht.
Krankheit, Sterben und Tod gehören zur Grundmelodie jeder Gesellschaft. Durch Corona ist sie hörbarer geworden. Spüren Sie einen Unterschied in der Trauer zu der Zeit vor der Pandemie? Ja, den spüre ich. Der Tod selber ist stärker in den Fokus gerückt. Fast jeder kennt mittlerweile jemanden, der an oder mit Corona verstorben ist. Dadurch wächst die Angst vor dem Tod. Die Frage wird ganz konkret: Kann mich das auch selbst betreffen. Andererseits wird deutlicher, dass diese Trauer auch mit einem Tabu belegt ist.
Worin besteht dieses Tabu? Wir haben vorher kaum über den Tod gesprochen. Auch jetzt reden wir nur mühsam über ihn. Öffentlich wird sehr viel über Maßnahmen gesprochen, über Gebote und Verbote, Einschränkungen und Freiheiten. Aber es wird sehr wenig darüber geredet, was tatsächlich passiert, wenn in Familien jemand mit oder durch Corona verstirbt.
Was passiert denn in diesen Familien? Das Thema Corona rückt plötzlich unglaublich nahe. Ich erlebe das im Gespräch mit den Angehörigen. Die Betroffenheit in deren Umfeld ist groß. Keiner weiß, was es wirklich bedeutet, wenn jemand unter schlimmsten Bedingungen, unter Atemnot verstirbt und dabei noch nicht mal eine Begleitung haben kann
Was empfinden die Hinterbliebenen? Da ist dieses Gefühl, den Abschied aus der Hand geben zu müssen. Das Sterben gehört zu den intimsten Dingen, die ein Mensch erleben kann. Entscheiden zu können, wer mich dabei begleitet, ist das Recht eines jeden. Dass das in der Pandemie nicht mehr gegeben ist, finde ich wirklich schwierig.
Was ist Ihre Aufgabe als Trauerbegleiterin? Ich begleite Menschen, in deren Familie ich eine Trauerfeier gestalten durfte. Das ist im Moment wichtiger als vor der Pandemie, zugleich aber schwieriger zu organisieren. Ich gehe zu den Leuten nach Hause, wo wir mit dem nötigen Abstand und mit Maske reden. Oder ich begleite sie online.
Worum geht es in den Gesprächen? Zum Beispiel um die Frage, ob man bestimmte Dinge nachholen kann. Viele leiden darunter, dass sie kein letztes Gespräch mit ihrer Verstorbenen, ihrem Verstorbenen führen konnten. Dafür finden wir Formen. Es ist möglich, einen Brief zu schreiben, den man mit ins Grab gibt oder später dort ablegt oder einbuddelt. Oder wir treten in einen fiktiven Dialog, damit die Trauernden auf ihrem Weg einen Schritt weiterkommen.
Gab es für Sie eine Begegnung im zurückliegenden Jahr, in der Sie an Ihre persönliche Grenze gekommen sind? Ich habe eine Familie begleitet, da ist der Mann mit Anfang 50 an Krebs verstorben. Er hat sehr lange in einer weit entfernten Klinik gelegen, und seine Ehefrau durfte ihn in neun Wochen nur zweimal besuchen. Was soll man dazu noch sagen, wie Trost spenden? Ich bin natürlich trotzdem da und halte das aus. Aber so etwas bewegt mich sehr.
Etwa 80.000 Menschen sind in Deutschland durch oder mit Corona gestorben. Viele haben sich an die tägliche Totenzahl gewöhnt. Wie schaffen wir es, empathisch zu bleiben? Ich denke manchmal, dass wir erst einmal empathisch werden müssen. Zu verstehen, dass unser Leben endlich ist, lehrt uns, empathisch zu sein – und hoffentlich auch zu bleiben. Wer das einmal gelernt hat, verliert es zeit seines Lebens nicht mehr. Wenn wir diese Herausforderung annehmen, nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit den Gefühlen beieinander zu sein, dann haben wir viel geschafft.
Bislang war Trauer etwas, wofür sich Menschen Zeit und Raum nehmen konnten. Trauerfeiern sind durch Corona vom privatesten Ritual zu amtlich genau geregelten Versammlungen geworden. Bleibt da eine Leerstelle? Ja, die bleibt. Auch weil beim Abschied etwas Entscheidendes fehlt: die Nähe. Letztendlich finde ich es unerheblich, ob bei einer Trauerfeier zwölf Personen oder 150 anwesend sind. Aber auch diese zwölf Personen dürfen sich nun nicht umarmen, nicht anschließend beieinander sitzen. Ich schlage manchen Angehörigen vor, sich statt dessen am Geburtstag des Verstorbenen oder am Todestag noch einmal zu treffen. Da geht es um diesen Menschen, aber auch um alle, die eigentlich dazugehören, aber nicht kommen durften, um sich zu verabschieden.
Es gibt viele Menschen, die ohne Covid-Erkrankung sterben und gestorben sind. Auch unter Bedingungen, die man niemandem wünscht. Wie geht es deren Hinterbliebenen? Einerseits ganz genauso wie denen, deren Angehörige an Corona verstorben sind. Andererseits haben sie das Gefühl, noch weniger gesehen zu werden. Bei meinem Gespräch mit Herrn Steinmeier und den Hinterbliebenen war mir das sehr wichtig zu sagen: Es sind innerhalb des letzten Jahres auch 900.000 weitere Menschen gestorben – und zwar unter Corona-Bedingungen, wenn auch nicht an Corona. Ich habe den Eindruck, dass das zunächst zu wenig im Blick war.
Nun trauert das Staatsoberhaupt mit dem Land. Ist das der richtige Umgang? Es gibt einige Gründe dafür. Da ist das Gesehenwerden der Hinterbliebenen, auch von oberster Stelle. Und da ist auch der Wille, Einzelschicksale ins Licht zu rücken. Dass Menschen sagen: Das war meine persönliche Erfahrung, und damit vielleicht andere zu berühren. Das wichtig zu nehmen halte ich für sinnvoll.
Und wo nicht? Kein Staatsakt kann Menschen ihre individuelle Trauer abnehmen. Es geht darum zu zeigen: Wir sind da, wir schauen hin, wir betrauern unsere Toten öffentlich.
Der Gesundheitsminister hat vor genau einem Jahr im Bundestag gesagt: „Wir werden einander verzeihen müssen.“ Gehört das Zumachen von Pflegeeinrichtungen, das Verwehren von letzten Besuchen, von Abschieden für Sie dazu? Kann man das verzeihen? Ich fand es wichtig, dass Jens Spahn das gesagt hat. Ja, wir müssen verzeihen. Aber ich bin nicht sicher, ob ich es könnte, wenn ich persönlich betroffen wäre. Wichtig ist, irgendwann Frieden damit zu schließen. Natürlich wurden und werden viele Fehler gemacht, die Lage war und ist sehr komplex. Aber wichtiger ist, sich auf der Bitte um Verzeihung nicht auszuruhen. Wenn ich etwas falsch gemacht habe, muss ich es verändern. Ich finde wichtig, auf dem schmalen Grat zu wandern zwischen: Was ist pandemisch wichtig und was menschlich geboten.
Wir befinden uns in der dritten Welle. Möglich, dass es noch weitere gibt. Wie schaffen wir es, in diesem fortdauernden Stress Raum für Trauer zu bilden? Da sind wir wieder beim Thema Empathie. Menschen geraten durch die auferlegte Distanz zunehmend in seelische Not. Aber wir sind ultrasoziale Wesen. Unser Lebenselixier ist der Kontakt mit anderen. Wenn wir sehen, jemand anderes ist in Not, müssen wir Brücken bauen, die auch in einer solchen Situation tragen. Das verlangt Herz, Einfühlungsvermögen und dass ich den anderen wirklich sehen will.
Was tröstet uns? Mich tröstet, dass ich weiß, dass auch über Entfernungen hinweg Verbindungen bestehen bleiben können. Dass sich daran wieder anknüpfen lässt. Und dass wir alle gleichermaßen erleben, dass wir Leben und Sterben nicht in der Hand haben. Das wirklich fühlen zu können, ist eine Bereicherung für jeden Menschen.
(Das Interview führte Anja Maier.)